Martin Werlen: Heute im Blick. Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht. Herder 2015, 3. Auflage.

Die Glut unter der Asche neu entfachen

Buchempfehlung: Martin Werlen
Heute im Blick. Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht.

Herder 2015, 3. Auflage.

Propheten sind Menschen, die offen über die Schwächen und die Sünden des Volkes reden und so zur Umkehr aufrufen. In diesem Sinne ist Martin Werlen, ehemaliger Abt von Einsiedeln, ein Prophet. Genau im Hinschauen, lebendig im Deuten dessen, was er sieht, ganz offen für Begegnungen und begeistert von Papst Franziskus und seiner Theologie der Barmherzigkeit. Sein neues Buch «Heute im Blick» zeugt davon.

Das Buch ist im Sabbathalbjahr entstanden, das Martin Werlen gewährt wurde, um vom Dienst des Abts wieder in die Rolle eines Mönchs unter anderen Mönchen zu finden. Zufall ist ein erstes Schlüsselwort des gut lesbaren Buches. Gott fällt uns zu, begegnet uns in den Zufällen des alltäglichen Lebens. Gnade ist ein für viele leeres Wort. Es erschliesst sich als das, was uns zu fällt. 

In der Wegweisung, die am Anfang des Buches steht, wird dargestellt, wie das Buch zu lesen ist: «Vor allem soll dieses Buch aber enttäuschen. Denn eine Ent-Täuschung gibt es nur dort, wo man in einer Täuschung gelebt hat. Täuschungen sind die grössten Hindernisse auf unserem Weg. Sie versperren uns oft den Blick auf das Wesentliche.» Im Buch geht es nicht einfach um Klarheit und Einordung. Die Versuchung jeder Begriffsbildung, die Klarheit und Ordnung schaffen will, stellt Martin Werlen radikal in Frage: «Alles klar? Hoffentlich nicht. Denn immer dann, wenn alles klar ist oder wir alles im Griff haben, sind wir nicht mehr auf dem Weg. Darum wird hier erzählt, was wir als glaubende Menschen leider immer wieder vergessen: Eine Kirche, in der alles klar ist, ist nicht katholisch.» 

Da werden einige Kardinäle und Bischöfe zusammenzucken und den Kopf schütteln. Aber auch wir erliegen zuweilen dieser Versuchung. Der Laie, der alles weiss und sich als wahrer Gläubiger versteht, ist allüberall anzutreffen. Diese Einsicht schickt Martin Werlen auf die Reise. Er besucht verschiedene Orte, um anderes Leben und Denken zu entdecken. Die Reise führt ihn nach Ungarn und nach Jerusalem. Ausführlich berichtet er von den Zufällen auf seiner Reise. 

Barmherzigkeit ist das dritte Schlüsselwort auf dem Weg, den das Buch beschreibt. Papst Johannes Paul II. hat im Jahr 2000 einen Sonntag der Barmherzigkeit eingeführt. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit, rachamim, ist die Mehrzahl von «rechem», was eigentlich wörtlich Gebärmutter bedeutet. Solcherart ist Gottes Barmherzigkeit: Mütterlich, bergend, ein Ort, an dem wir heranwachsen können, Er liebt uns zum Leben! Die Wortwurzel «cham» bedeutet: Wärme. Das ist ein ganz archaisches Bild, das uns tief an der Wurzel unseres Seins anspricht (und weit mehr ist als Verzeihung): Die wärmende und lebensspendende Mütterlichkeit Gottes. Sie hat heilende Kraft. Barmherzigkeit ist auch ein Schlüsselwort in den Ansprachen und Symbolhandlungen des Papstes, der sich programmatisch der Verkündigung der Barmherzigkeit annimmt. 

Franziskus ist gleichsam das vierte Schlüsselwort des ehemaligen Abtes von Einsiedeln. Er ist der am häufigsten zitierte Autor. Deutlich wird, wie sehr Martin Werlen diesen Papst verehrt und seine Anliegen weiterträgt.
So ist zu verstehen, dass Werlens Buch nicht aus Kapiteln besteht, in denen eine These argumentativ entwickelt wird. Statt Kapitelüberschriften stehen über den Texten römische Zahlen. Hundert Impressionen, Profetien und Provokationen legt er uns in seinem Buch vor. Manfred Lütz, Arzt, Theologe und Psychoanalytiker, der sich mitunter satirisch mit der Kirche befasst und 2014 eine «Psycho-Analyse der katholischen Kirche» vorgelegt hat, schreibt über Werlens Buch: «Seine lebendige Spiritualität macht auch ganz weltlichen Menschen den Glauben berührbar. Martin Werlen ist ein kraftvoller, oft provozierender Christ, der mit seinen Einsichten die Welt begeistern kann. Die Glut unter der Asche wird wieder spürbar.» Gibt es eine bessere Würdigung des Buches als diese? 

Xaver Pfister in Kirche heute, das römisch-katholische Pfarrblatt der Nordwestschweiz

http://www.kirche-heute.ch/kirche-heute/beitraege/3aktuell-1/2015-14-Martin-Werlens-neues-Buch.php

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